Sind wir die Sorglosen?

Tourismus in Zeiten der Weltkrise oder: mit Stefan Zweig ins Engadin
Text 
Julian Reich

Kürzlich stiess ich auf einen Text von Stefan Zweig, dem Autor der berühmten «Schachnovelle». Darin schildert er Eindrücke, die er bei einem Aufenthalt im Engadin gesammelt hatte, notabene zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Der Essay «Bei den Sorglosen» erschien 1918 in der «Neuen Freien Presse» in Wien. 100 Jahre später fühlte ich mich ertappt, denn Zweig schreibt über all die reichen Menschen, die damals abseits des Weltenbrands in der Schweizer Idylle Ferien machten, Ski fuhren, auf Maskenbällen tanzten und Champagner tranken. Im Dezember war ich selbst im Engadin, spazierte durch die Landschaft, staunte über Pelzmäntel und duckte mich vor Privatjets, die durch den blauen Himmel flogen. Und es beschlich mich ein ähnliches Gefühl, wie es der Romancier damals zu Papier gebracht hatte: 

«Zwiespalt der Zeit! Man sieht die Freude der Menschen und schämt sich ihrer. Man sieht ihre Trauer und wünscht ihnen Freude. Man möchte mittun und fühlt sich in Schuld gegen die anderen, denen alles versagt ist, man möchte sorglos sein mit den Sorglosen und hasst doch ihre Kälte. Zwischen zwei Wellen schaukelt das Herz. Der Mensch in uns, der brüderlich aufgetane, mahnt: birg dich, verbirg dich, tu Trauer für das unendliche Blut! Und das Leben in uns, das ewig teilnahmslose, das nur sich selbst will und seine erlesenste, kostbarste Blüte, die Freude, es lockt: bleib ganz in dir, bleib froh, deine Trauer wird es nicht ändern! Der Mensch in uns sagt: zahl freiwillig deine Schuld an die fremde Not, leide mit alles Leiden, versag dir die Freude! Und das Leben befiehlt: gib dich hin an jede Freude, sie ist deiner Seele Brot und Blut! Der Mensch in uns sagt: nur durch Trauer lebst du wahrhaft die Zeit, fühlst du den Krieg. Aber das Leben spricht: nur durch Freude erlöst du dich von der Zeit, besiegst du den Krieg! Und das Herz, das irdische, schwankt. Es sehnt sich nach Freude der ganzen Welt und schämt sich jeder eigenen. Es hasst die Sorglosigkeit und hasst auch seine eigene Bitterkeit, seine zwecklose Trauer, die keinem hilft. Es bleibt heimatlos unter den Heiteren und horcht doch sehnsüchtig nach ihrem Lachen. Und fühlt sich unendlich allein hier zwischen der strahlenden Landschaft und den eisigen Herzen.»

Zwischen zwei Wellen schaukelt das Herz: So erging es mir auch mit der aktuellen Ausgabe. Graubünden geht es gut, der Tourismus boomt und neue Projekte stehen vor der Realisierung – und gleichzeitig ist da die Welt ausserhalb unserer Grenzen, die ganz andere Probleme hat. Sorglos bleiben können wir nicht, denn diese Probleme machen nicht Halt vor unseren Grenzen, ob nun in der Person von Geflüchteten oder in der Form extremer Wetterphänomene. Sorglosigkeit ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können. Und Herzlosigkeit schon gar nicht.

Trotzdem: Ich wünsche Ihnen von Herzen Momente der Freude. Zum Beispiel mit der neuen «Terra Grischuna».

Julian Reich
Redaktionsleiter