Was wir sehen, wenn wir schauen

«Wasserfall». (1997)

Gerhard Richter in einer Dreifachausstellung im Engadin
Einer der bedeutendsten Maler der Welt hat sich über Jahre hinweg mit der Engadiner Landschaft auseinandergesetzt: Gerhard Richter. Nun widmen ihm das Nietzsche Haus, das Segantini Museum und die Galerie Hauser &Wirth eine gemeinsame Ausstellung in Sils Maria und St. Moritz.
Text 
Julian Reich
Bilder 
© Gerhard Richter

Im Dezember wurde «Gerhard Richter. Engadin» an den drei Standorten in St. Moritz und Sils Maria eröffnet, und man geht mit anderen Augen durch die Welt, nachdem man sich ein wenig damit auseinandergesetzt hat. Gerade die Konfrontation mit den Meisterwerken Giovanni Segantinis im gleichnamigen Museum wirft einen gewissermassen aus der Bahn: Da draussen ist diese erhabene Landschaft, der Segantini seine Leinwände mittels leuchtenden Farben und Myriaden von Pinselstrichen geweiht hat – und daneben nun dieser Richter, der, 1932 in Dresden geboren, natürlich nicht mehr mit dem Glauben an eine hinter der Natur stehenden Göttlichkeit Kunst machen kann. Stand der Betrachter bisher noch vor einem Bild, das eine Landschaft zeigt, die eine Seele birgt, so fällt diese quasi vierte Dimension der Weltordnung nun weg – und wirft die grosse Frage der Moderne auf: Was sehen wir eigentlich, wenn wir schauen?

In all ihren Formen gegen uns?

Von Richter sind einige wenige Zitate überliefert, mit der er seine Landschaftsmalerei erklärte. Er wollte «etwas Schönes malen», soll er einmal  in den 1960er-Jahren gesagt haben, sicherlich damit kokettierend zu einer Zeit, in der das Schöne in der Kunst aus der Mode gekommen war. Allerdings, so zitiert ihn der Katalog zur Ausstellung, seien seine Landschaften «ja nicht nur schön oder nostalgisch, romantisch oder klassisch anmutend wie verlorene Paradiese, sondern vor allem ‹ver­logen›», denn sie würden die Natur verklären, «die in all ihren Formen stets gegen uns ist».

Nun, wir wollen der Natur hier nicht unterstellen, sie hätte etwas gegen uns. Eigentlich ist es doch viel schlimmer: Wir sind ihr ziemlich egal. Eine Gleichgültigkeit, die allerdings nicht auf Gegenseitigkeit beruht, denn anders wäre die Landschaftsmalerei, die seit Jahrhunderten ein festes Genre bildet, nicht zu erklären (und der Tourismus auch nicht).

Bildvorlagen aus dem Engadin
Bildvorlage Engadin

Als Tourist kam Richter 1989 zum ersten Mal ins Engadin, nach Sils Maria ins Hotel «Waldhaus». Während über 25 Jahren hielt er sich regelmässig für Sommer- oder Winterferien im Engadin auf. Bereits 1992 war im Nietzsche-Haus eine von Hans Ulrich Obrist kuratierte Schau zu sehen, in der er erstmals seine kleinformatigen, übermalten Fotogra­fien präsentierte. Eine fortan eigenständige Werkgruppe, die gerade in der aktuellen Ausstellung den Hauptharst der Wer­ke bildet. Die Fotos dienten Richter zunächst als Vorlage für seine Gemälde, indem er sie auf eine Leinwand projizierte und dann mit Ölfarbe nachmalte. Dabei betupfte er mit dem Pinsel immer wieder die Vorlagenfotografie, zuerst ohne andere Intention als dem Abgleich der Farbtöne. Bis er bemerkte, dass die so bearbeiteten Fotografien selbst zu eigenständigen Bildobjekten wurden. 
Auch hier stellt sich bald die Frage: Was sehen wir da eigentlich? Nicht die auf dem Foto abgebildete Landschaft ist das tatsächlich Reale, sondern die aufgetragene Farbe, der Punkt, der Spritzer, der Tropfen – der mit der Rakel verzogene Farbkörper ist die eigentliche Landschaft. Dahinter verschwindet die Engadiner Natur, die gerade in unserer Zeit millionenfach abgebildet wird. Wie ehedem der göttliche Funken aus der Kunst. 

Das Auge rutscht ab

Unbedingt sehenswert sind auch Richters Gemälde «Wasserfall» (1997) und «Waldhaus» (2004), die ebenfalls im Segantini Museum ausgestellt sind. In beiden könnte man auf den ersten Blick romantische Kompositionen erkennen, doch wer genauer hinschaut, erkennt, wie der Maler die Oberfläche so bearbeitet hat, dass alles verschwommen wirkt und sich das Auge kaum festhalten kann. Ganz anders also als etwa bei Segantini oder auch Caspar David Friedrich, dem grossen deutschen Landschaftsmaler, der in diesem Jahr 250 Jahre alt geworden wäre. Zu ihm spannt sich übrigens ein Bogen: Der Kurator der Engadiner Ausstellung, Dieter Schwarz, war lange Jahre Direktor des Kunstmuseums Winterthur, das sowohl von Friedrich als auch von Richter eine beachtliche Sammlung besitzt.

Und hier ein schönes Video der mitorganisierenden Galerie Hauser&Wirth:

 

Weitere Infos

Online www.segantini-museum.ch
Literatur Gerhard Richter. Engadin. Hrsg. von Nietzsche Haus, Segantini Museum und Hauser & Wirth, 2023. Mit einem Text von Dieter Schwarz. 
Ausstellungen bis 13. April 2024